Digitalisierung geht weiter, als nur Rechnungen mit der Business Software zu erstellen oder neu Microsoft Teams zu verwenden. Unter digitaler Transformation verstehen wir den durch digitale Technologien und darauf beruhenden Kundenerwartungen ausgelösten Veränderungsprozess innerhalb eines Unternehmens. Denn die Akzeptanz der neuen Technologien bedeutet mehr, als zu wissen, welcher Menüpunkt ausgewählt werden muss. Es geht vielmehr um eine eigentliche «Digitale Transformation», die alle Bereiche des Unternehmens bis hin zur Beziehung mit Partnern erfasst und oft regelrecht umkrempelt – und zwar nicht nur technisch, sondern auch kulturell und organisatorisch. Digitalisierung ist somit nicht primär eine Angelegenheit für die IT Abteilung oder den IT Partner, sondern sollte strategisch angegangen werden. Dabei spielen folgende Elemente eine Rolle:
Treiber von Digitalisierungsstrategien sind meist Effizienzüberlegungen und in einer zweiten Phase Wachstumsthemen. Wichtig ist, dass Unternehmen sich mit den Chancen und Risiken der Digitalisierung beschäftigen und für sich einen Weg definieren, wie mit der Digitalisierung umgegangen werden kann und soll. Dieser Weg sollte in einer digitalen Strategie beschrieben und mit klaren Zielen und Zielvorgaben ausgestattet werden.
Für eine erfolgreiche Umsetzung der Digitalisierungsstrategie ist die Verknüpfung mit der Unternehmensstrategie zentral. Durch die Überprüfung der Produktepalette, der Märkte und Zielgruppen wird ein erster Fokus für die Digitalisierung gelegt. Dabei werden die Prozesse sowohl gegenüber den Kunden wie auch intern für die Erfüllung der Dienstleistungen berücksichtigt, und zwar für die bestehenden wie auch für die neuen digitalen Geschäftsmodelle. Strategische Ziele und daraus abgeleitete, iterativ ermittelte konkrete Zielsetzungen geben dabei die Stossrichtung vor. Technologieaspekte, sowohl die Erfassung der bestehenden Infrastruktur wie auch die möglichen Auswirkungen und Möglichkeiten von neuen Technologien geben den Rahmen für einen geplanten Umsetzungshorizont. Die Sicht auf die vorhandenen Daten und allen falls neu zu erhebenden Daten kann ein weiterer Hinweis auf Digitalisierungsmöglichkeiten sein.
Nicht zu vernachlässigen sind dabei unternehmensspezifische kulturelle und organisatorische Aspekte. Für eine auf das Unternehmen angepasste Roadmap ist ein Verständnis über die bestehenden oder neuen Rollen und Kompetenzen unabdingbar. Der Einbezug von HR und Ausbildungsaspekten ist sinnvoll, um die Strategie wie geplant umsetzen zu können (Themenblöcke: Proof of Concept Denken, Design Thinking, agile Arbeitsmethoden, Umsetzungskompetenzen in den neuen Technologien).
Beispiele in der Versicherungsbranche
Versicherungsangebote vergleichen, Rechnungen einreichen, Leistungen überprüfen, Schadensvorfälle melden: alles wird mittlerweile online angeboten. Ein zentrales Erfolgskriterium für das Vertriebsmodell besteht zum Beispiel darin, komplexe Arbeitsschritte durch Digitalisierung zu konsolidieren und radikal zu vereinfachen. Agilität und pragmatische Lösungen sind gefragt: auch branchenfremde Player mit einem teilweise neuen Ansatz sowie eine wachsende innovative InsurTechBranche treiben den Veränderungsprozess voran.
Grafik: Einflussfaktoren Digitalisierungsstrategie
Kundenzentrierte Strategieentwicklung
Organisationskonzentriert
- Was kann ich dem Kunden noch anbieten?
- Wie kann ich den Kunden am besten erreichen?
- Welche Beziehungen muss ich mit dem Kunden festigen?
- Wie kann ich mit dem Kunden Geld machen?
Kundenzentriert
- Welche Tätigkeiten muss der Kunden vornehmen und wie kann ich ihm diese erleichtern/abnehmen?
- Wie möchte der Kunde kontaktiert werden?
- Welche Beziehung wünscht sich der Kunde mit uns?
- Für welche Dienstleistungen ist der Kunde bereit, Geld auszugeben?
Die Transformation eigener Prozesse sollte dabei nach dem Prinzip ’von aussen nach innen’ gestaltet werden und nicht umgekehrt. Die Prozesse sollten sich an den Schnittstellen zum Kunden orientieren und nicht an den internen Prozessen. Vor allem bei komplexen Organisationsstrukturen können so schneller Erfolge verbucht werden. Wichtig dabei: Digitalisierung ist mehr als Automatisation.
Kundenzentrierte Prozesse: «The difference lies in whether people are regarded as extentions of the machine or the machine is designed as an extention of people.» Sara J. Czaja (1987)
Kosten sind jedoch nicht der einzige Grund, weshalb sich die Versicherungen zur Digitalisierung entscheiden. Für die Digitalisierung der Versicherungsbranche sind die Verbesserung der Effizienz und die wachsenden Ansprüche der Versicherungsnehmer treibende Faktoren für Innovationen. Die Kundenwünsche und ihre Erfahrungen mit neuen Technologien geben dabei den Takt an. Das digitale Erlebnis in anderen Branchen treibt die Kundenerwartungen im Versicherungsbereich: Angebote einfach ’shoppen’, Kontaktmöglichkeiten über Chatbots, einfache Einreichung von Unterlagen und ergänzende Erlebnisse um die Versicherungslösung selbst (Fitnessangebote, Automietung etc.) binden den Kunden.
Durch die digitale Verfügbarkeit und dauerhafte Vergleichbarkeit der Angebote besteht zudem für den Kunden die Möglichkeit, den Anbieter einfach zu wechseln. Waren sich die Versicherungen bis vor einigen Jahren noch sicher, die einmal gewonnenen Kunden dauerhaft bei sich halten zu können, ist dies zunehmend nicht mehr der Fall. Die digitalen Abschlusskanäle sind deshalb für die Versicherungen zentral. Bereits 2013 haben rund 60% der Versicherungskunden in einer Studie von Bain & Company zum Thema ’Versicherungen: Die digitale Herausforderung’ angegeben, dass sie die webbasierten Kommunikationskanäle zukünftig bei Interaktionen mit Versicherungsunternehmen als zentral erachten. Die Publikation ’What lies beyond Digital for Insurance Operations?’ der Boston Consulting Group (BCG) von 2020 zeigt in ihrem ’A bionic operating model for insurers’ auf, wie die unterschiedlichen Kundeninteraktionen (machinetomachine, digital channels, augmented agents) und Service-Delivery-Methoden (AIdriven automation, data management, digital cockpits, digital ecomsystems) zur Schaffung von neuen Kundenerlebnissen (live tracking, proactive and preemptive services, dynamic mass personalization) genutzt werden können. Das Ziel dieser ’bionic operations’ ist die Verbesserung des Kundenerlebnisses durch Vereinfachung der notwendigen Schritte wie auch die Zurverfügungstellung von wertbringenden Services für die Kunden und führt somit zu einer Erhöhung des Net Promoter Scores (NPS).
Somit werden für die Versicherungen der Kundenfokus und die Bedürfnisse ihrer Nutzergruppen immer wichtiger und stehen im Zentrum jeder digitalen Lösung. Neuen Ansätze wie Design Thinking und Value-Proposition-Design-Techniken, sowie die Analyse der Pain Points treiben das Design der neuen Prozesse. Dabei ist es wichtig, dass die Kunden diese Veränderung als positiv erfahren, sei es durch einen erfahrenen Mehrwert oder die Vereinfachung eines Prozesses.
Grafik: Design-Thinking-Prozess
Der DesignThinkingAnsatz (entwickelt 1991 von T. Winograd, L. Leifer, D. Kelley) geht davon aus, dass für Probleme eine bessere Lösung gefunden werden kann, wenn Personen aus unterschiedlichen Disziplinen in einem kreativen Umfeld zusammenarbeiten. Dabei stehen die Bedürfnisse und Motivationen von Menschen (Kunden) im Vordergrund, wobei ebenso die faktenbezogene Machbarkeit und Wirtschaftlichkeit der innovativen Lösung einbezogen wird. Die Methode vereint somit drei Kernaspekte: Nutzen, Umsetzbarkeit und Marktfähigkeit. Die Methode orientiert sich an der Arbeit von Designer und umfasst folgende Schritte:
– Emphatize: das Problem wird im Team definiert und analysiert. Was tun, sagen, denken oder fühlen die Kunden?
– Define: Definition der Wünsche oder des Kernproblems für den Kunden. Techniken wie Personas oder PointofView werden dazu verwendet, den Standpunkt bildlich wie schriftlich zu definieren.
– Ideate: Sammlung von Ideen in interdisziplinären Teams, wie das Problem gelöst werden könnte.
– Prototype: Ein Prototyp wird zu Anschauungszwecken erstellt. Ausgerichtet wird der Prototyp auf die Bedürfnisse des Kunden. Wichtig ist, dass dieser sich anhand des Prototyps die Lösung seines Problems vorstellen kann.
– Test: Zuletzt muss das Erarbeitete getestet werden, wobei Feedback eine wichtige Rolle spielt. Es ist durchaus üblich, dass es bei neuen Produkten mehrere Testphasen gibt, bis der Kunde zufrieden ist., Was wünschen sich nun digital affine Kunden? Die Ergebnisse einer 2019 durchgeführten Studie «Digitalisierungs-Ranking 2019» (Kooperation Zühlke, Horváth & Partner, Link Institut und der Hochschule für Wirtschaft Zürich HWZ) zeigen, dass zwischen dem Digitalisierungsgrad der Kundenschnittstelle und den Erwartungen der Kunden noch überraschend grosse Lücken klaffen. Die darin aufgeführten Kundenwünsche sind durchaus nicht utopisch: Alles online nutzbar, Versicherungen und Leistungen individuell «zusammenklickbar», keine Paketprodukte mit unnötigen Leistungen, Kostentransparenz pro Leistung sowie flexible Versicherungsprodukte, die zur aktuellen Lebenssituation passen. Kunden möchten dabei die gesamte Kette von Information und Möglichkeiten, vom Abschlussprozess über Rechnungen und Mutationen bis hin zur digitalen Schadenabwicklung komfortabel und benutzerfreundlich online auf einer Plattform einsehen. Was dabei spannend ist: der Abschluss einer Versicherungspolice wird auch von digital affinen Kunden vorzugsweise über den Desktop durchgeführt, nicht übers Smartphone. Dies wiederum bedingt, dass Plattformen ’responsive’ programmiert werden müssen, damit Kunden wählen können, über welchen Formfaktor sie die jeweilige Interaktion vornehmen möchten.
Doch bedingt eine radikale Kundenzentrierung wirklich immer eine Digitalisierung? Die zunehmende Fokussierung auf digitale Kanäle birgt auch das Risiko, einen Teil des Kundenstammes zu verlieren, die nach wie vor den persönlichen Kontakt und langfristige Beziehungen schätzen. Kritische Stimmen bemerken, dass ein kundenzentrisches Denken zu oft in reinen Digitalisierungsprojekten mündet. Technologie ist jedoch nur Mittel zum Zweck, die es den Versicherungen erlaubt, sich auf ihre Kernaufgabe zu fokussieren: das Vertrauen der Kunden zu gewinnen. So können Standardabläufe wie Policen oder Anträge zu erstellen und zu prüfen automatisiert werden, damit mehr Zeit für den persönlichen Kundenkontakt entsteht.
Digitalisierung heisst nicht zwingend, dass der Mensch überflüssig wird, im Gegenteil: es soll so Raum entstehen, um mehr Zeit zu gewinnen, um die Kundenbedürfnisse in den Mittelpunkt zu stellen. Und: Je besser das Verständnis für die wirklichen Kundenbedürfnisse ist, desto leichter fällt die Einschätzung des tatsächlichen Mehrwerts einer neuen Technologie. Zu beachten ist auch die Kundenzusammensetzung: nur wenige Unternehmen können sich auf eine homogene Nutzergruppe konzentrieren. Welches Produkt wird durch wen und wie genutzt? Welche Absatzkanäle sollen berücksichtigt werden? Wie erreichen wir diese Kunden?
Nutzen für die Versicherung
Für etablierte Versicherungsunternehmen ist es jedoch oft eine Herausforderung, die neuen Ansätze zeitgerecht umsetzen zu können. So sind oft folgende Einwände zu hören:
- Digitalisierung ist ein IT Thema
- XYZ hat dies auch noch nicht, wir haben noch Zeit
- Nur weil wir eine App nicht haben, werden die Kunden nicht wechseln
So ist es denn nicht verwunderlich, dass zunehmend InsurTech Startups aus dem In und Ausland als neue Anbieter mit flexiblen Angeboten bestehende Lücken schliessen. Oftmals gründen auch etablierte Player auf dem Markt neue Marken, um innovative Angebote einer neuen Kundschaft zugänglich zu machen: so expandiert die Baloise mit der Marke ’Friday’ nach Frankreich (FinTech News Schweiz, France InsurTech, Baloise’s InsurTech Arm FRIDAY Expands To France). Zudem ist die InsurTechBranche sehr aktiv und auch das Schweizer Ökosystem ist mit unterschiedlichen Angeboten sehr aktiv (Fintech News Schweiz, InsurTech, Swiss InsurTech Startup Map). Bezüglich des Nutzens der Digitalisierung für die Versicherungen selbst, zeichnet sich ein Trend in Richtung Künstlicher Intelligenz (KI) ab. Dabei geht es um folgende Aspekte:
- Vereinfachung von bestehenden Abläufen im Krankenversicherungsumfeld: Ergänzung/Unterstützung von Versicherungsagenten, um einfache Bürotätigkeiten durch Bots und maschinelles Lernen zu ersetzen. Die KI wird in der Versicherung Krankenhausakten einscannen und andere Dokumente verarbeiten, um mögliche Auszahlungen zu berechnen. Dazu gehört auch die Arbeit mit den Namen und Daten der Versicherten sowie deren medizinische Vorgeschichte und aktuellen Verletzungen. KI soll dabei mit den Angestellten zusammenarbeiten. Aufgabe der KI soll es sein, bestimmte Informationen aus den Dokumenten herauszusuchen und einen Algorithmus einzusetzen, um beispielsweise Vorschläge über die auszuzahlenden Beträge zu machen. Die letzte Entscheidung wird dann vorerst auch weiterhin von einem Menschen getroffen werden.
- Nutzerbasierte Preisbildung: Beispiele sind das nutzungsabhängige Pricing für Autofahrer oder verhaltensbasiertes Pricing für Krankenversicherungen wie beispielsweise ein gesunder Lebensstil. Diese Art der Versicherungen unterliegen dem Pay-what-you-risk-Prinzip: tragbare Sensoren oder Telemetriedaten erlauben es der Versicherung das aktuelle Kundenverhalten zu übermitteln und somit eine flexible Preisanpassung vorzunehmen. So könnten sich Prämien in der Privatversicherung künftig stärker entlang von Lebensstil und Veranlagung individualisieren oder sie orientieren sich mittels Bonus- und Malus-Systemen aktiver an der individuellen Lebensführung. Solche Angebote sind abhängig vom regulatorischen Umfeld und im Moment durch Prämienrabatte implementiert.
- Kundenerlebnis: Chatbots, welche die Nutzer erkennen oder Plattformen, die Nutzer verifizieren können, sollen das Erlebnis für den Kunden vereinfachen. Dies soll eine sogenannte ’seamless automated buying experience’ ermöglichen.
- Schadensbegleichung: Online-Schnittstellen und virtuelle Versicherungsbearbeiter machen es effizienter, Ansprüche nach einem Unfall zu beurteilen und zu begleichen, während gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit von Betrug verringert wird. Die Kunden können auch auswählen, wessen Prämien zur Beachtung ihrer Forderungen verwendet werden (sogenannte Peer-to-Peer-Versicherung P2P). So verspricht das Versicherungsstartup ’Lemonade’, dass sie angeblich einen Anspruch in weniger als drei Sekunden begleichen könne. Die ’Time to settle’ sei dabei die Leistungskennzahl, welche die Kunden am meisten interessieren würde, wobei dies wahrscheinlich vor allem für Standardfälle gilt.
- Identifikation von Betrugsfällen: Versicherungsbetrug ist ein weiterer Bereich, der als ’low hanging fruit’ für die Anwendung von Künstlicher Intelligenz genannt wird. So ist ein Szenario, den Informationsfluss von Spitälern und Versicherungen zu verbessern resp. zu automatisieren. Auf Identitätsdiebstahl basierende Schadensmeldungen können so schneller und einfacher identifiziert werden, vergleichbar mit Massnahmen, welche die Kreditkartenfirmen bereits implementiert haben. Es erstaunt deshalb nicht, dass eine Vielzahl von InsurTech-Lösungen sich in diesem Themenfeld bewegen. Die Art der Versicherungsprodukte, deren Abschluss sich über digitale Kanäle eignen, gilt es zu beachten. Komplexe Produkte bedürfen der Erklärung und oft eine individuelle, der Lebenssituation angepassten Beratung, damit die Kunden sie verstehen und kaufen können. So sind die meistverkauften digitalen Produkte vor allem Standardprodukte: Reiserücktritt, Kfz, Rechtsschutz, Auslandskranken und Unfallversicherung. Komplexere Produkte wie Lebensversicherungen werden oft noch durch das persönliche Kundengespräch abgewickelt. Dies könnte sich jedoch mit der zunehmenden Entwicklung KI-basierter Lösungen ändern: wollen die etablierten Anbieter dann nicht Marktanteile an neue, rein digitale Wettbewerber verlieren, müssen sie ihre bestehenden Online-Versicherungsangebote überdenken und erweitern.
Bildung von Ökosystemen
Ein elementarer Bestandteil einer Digitalisierungsstrategie ist die Bildung von sogenannten Ökosystemen. Ein digitales Ökosystem besteht aus Lösungen, Anwendungen und Systemen sowie externen Partnern, Lieferanten, Kunden, externen Datendienstleistern und allen ihren jeweiligen Technologien. Es ist dabei ein dynamisches Netzwerk, welches als Kommunikationsdrehscheibe zwischen den Beteiligten figuriert. Wenn ein digitales Ökosystem integriert wird, ermöglicht es Unternehmen, neue und alte Technologien zu nutzen – und automatisierte Prozesse um sie herum aufzubauen – um ein Unternehmen kontinuierlich wachsen zu lassen. Es ermöglicht es zudem, B2B, Anwendungs- und Datenintegrationen in das gesamte Unternehmensnetzwerk integrierbar zu machen.
Der Versicherungsbranche fehlte zum Beispiel bis anhin eine Möglichkeit für einen standardisierten digitalen Datenaustausch. Das Problem dabei: verschiedene technologische Lösungen, fehlende Durchgängigkeit, Insellösungen und Medienbrüche. Die im Jahr 2003 gegründete IG B2B for Insurers + Brokers verbindet die Interessen von Versicherern, Brokern und Softwareherstellern in Bezug auf die Ausgestaltung des elektronischen Geschäftsverkehrs im Brokermarkt. Als nicht gewinnorientierte und neutrale Organisation erarbeitet IG B2B branchenweite Standards zur elektronischen Kommunikation zwischen Versicherern und Brokern und stellt diese ihren Mitgliedern zur direkten Nutzung und Entwicklung spezifischer Lösungen zur Verfügung. In den letzten Jahren ist der Ruf nicht nur nach einheitlichen Prozessen, sondern auch nach einer zentralen digitalen Lösung immer lauter geworden. Um diesem Bedürfnis nachzukommen, startete die IG B2B die «Brokerinitiative 2018», mit dem Ziel, eine solche Lösung, beziehungsweise eine entsprechende zentrale Online-Plattform zu bauen, welche es erlaubt, die B2BKernprozesse wie beispielsweise Kommunikation und Information, Vertragserstellung, Offerten, Rechnungen und Mahnungen zu automatisieren. Sie bietet auch Schnittstellen für Drittanbieter und berücksichtigt Datenschutzaspekte.
Anfang 2020 startete das Testing, danach folgt die Migration der bestehenden Prozesse auf den neuen Hub, dem EcoHub. EcoHub basiert auf der erprobten und skalierbaren CloudTechnologie Microsoft Azure. Ziele der Plattform:
- Essentials: Die bisherigen Services (Branchenstandards für den digitalen Datenaustausch im Brokermarkt, DXPService für die Abwicklung der Kernprozesse im Brokermarkt, XMLViewer für Zugang zu den Brokerservices ohne DXPService) von IG B2B sind auf EcoHub verfügbar und werden erweitert und ergänzt.
- Marktplatz: Die Plattform ist offen für Dienstleistungen von Marktakteuren und Dritten, z. B. von unabhängigen Softwareherstellern.
- Community: EcoHub öffnet den Teilnehmern des Schweizer Versicherungs-, Vorsorge- und Brokermarkts über eine einzelne Schnittstelle den Zugang zu gemeinsamen digitalen Lösungen. Alle Marktteilnehmer können als offene Community die digitalen Services anderer Anbieter nutzen, eigene Lösungen anbieten und so das Angebot mitgestalten. Auch unabhängige Dritte können Teil der Community werden und Dienstleistungen anbieten.
Ethische Überlegungen
Personenbezogene Daten über den Gesundheitszustand und die Lebensführung von Einzelnen ermöglichen je nach den regulatorischen Anforderungen neue Versicherungsmodelle. Dies kann weitreichende Konsequenzen haben und zum Beispiel das jetzige Verständnis einer solidarischen Finanzierung im Bereich Sozialversicherungen verändern. Und nicht zuletzt durch die Abstimmung zur e-ID können wir beobachten, dass die Konsumenten durchaus kritisch gegenüber der Verwendung von sensitiven Daten eingestellt sind, wenn diese nicht transparent offengelegt wird. Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz mit Mustererkennung kann jedoch auch Diskriminierungen identifizieren und verhindern. Versicherungsthemen werden so vermehrt zu gesellschaftlichen Themen, die in einem digitalen Umfeld neu diskutiert werden müssen.
Um einen aktiven Part in dieser Diskussion einzunehmen, hat die Stiftung Sanitas Krankenversicherungs-Stakeholder-Gespräche zum Thema Versicherungssolidarität initiiert. Vertreten waren alle drei Bereiche Erstversicherung, Rückversicherung und Krankenversicherung (Zurich Schweiz, Swiss Re und Sanitas Krankenversicherung), das Konsumentenforum kf sowie Wissenspartner aus dem Datenschutz (Bruno Baeriswyl), von der Hochschule (Hato Schmeiser, Direktor Institut für Versicherungswirtschaft HSG) sowie vom Think Tank W.I.R.E. Das Resultat der Debatten wurde mit einem Grundlagenpapier «Digitale Verantwortung und Solidarität in der Versicherung» veröffentlicht und soll einen Beitrag zum öffentlichen Diskurs leisten. Das Papier zeigt Wege auf, wie die drei Akteurgruppen Unternehmen, Konsumenten und Staat ihre digitale Verantwortung im Versicherungsumfeld wahrnehmen können und der Spielraum für zukunftsgerichtetes Handeln dennoch erhalten bleibt. Die vier in diesem Papier genannten Grundprinzipien sind:
- Fairness: Integres Geschäftsgebaren sowie Risikogerechtigkeit in der Privat, solidarische Finanzierung in der Sozialversicherung.
- Autonomie: Selbstbestimmte Entscheidungsfähigkeit der Konsumentinnen und Konsumenten.
- Transparenz: Informationen über Speicherung, Nutzung und Weitergabe von Daten sowie ihre Rolle bei Entscheiden und Empfehlungen.
- Persönlichkeitsschutz: Schutz vor Manipulation, Verlust, unautorisierter Weitergabe oder öffentlicher Exponierung persönlicher Daten.
Herausforderungen für die IT
Digitalisierungsprojekte beginnen für die wenigsten Versicherungen auf der grünen Wiese. Zudem entwickelt sich die Technologien, welche die Kunden kennen und nutzen sehr schnell weiter. Dies bedingt neue Enterprise-Lösungen, die die aktuellen Trends möglichst schnell einem breiten Nutzerkreis zugänglich machen.
Versicherungen starten auf einer historisch gewachsenen IT-Landschaft aus den 70er und 80er Jahren. Dies bedeutet, dass viel Arbeit in die Modernisierung der Plattformen gesteckt werden muss. Viele Backend-Systeme widerspiegeln die technischen Möglichkeiten aus der damaligen Zeit: Datensilos sind durchaus normal und die Strukturen der Lösungen bilden die damalige zum Teil komplexe Organisation ab. Technologieprojekte dauern zudem oft Jahre, da die bestehenden Systeme weiter gepflegt und betreut werden müssen und durch ihr monolithisches Design oft sehr komplexe Migrationsvorhaben darstellen.
Zweitens dauern Technologie-Projekte in grossen Unternehmen allgemein sehr lange, oft Jahre, da bereits vorhandene Systeme weiter gepflegt und betreut werden müssen und Veränderungen eine grosse Herausforderung darstellen. Oft sind die neu entwickelten Lösungen dann bereits wieder veraltet, noch bevor sie überhaupt live gehen. So stehen den kurzen Innovationszyklen bei der Weiterentwicklung von Web-Technologie, die Nutzern immer neue Möglichkeit gibt und ihre Erwartungen in die Höhe schraubt, sehr lange Entwicklungszyklen bei der Integration in bestehende Infrastrukturen gegenüber.
Viele Unternehmen wissen zudem nicht, wie sie die Geschwindigkeit der technischen Innovationen in die bestehende Projektlandschaft integrieren sollen. Auch ist nicht immer klar, welche Innovation am meisten Aussicht auf Erfolg hat oder welche sich als ’Hype’ entwickeln. ’Fail Fast’ ist hier ein Teil der Strategie, diesem Umstand Rechnung zu tragen: es ist zu Beginn einer technischen Entwicklung fast nicht möglich deren Erfolg vorauszusehen. Dieser Paradigmenwechsel ist zum Teil schwierig zu vollziehen, vor allem bei Unternehmen die eher konservativ und mit langem Planungshorizont unterwegs sind. Hier empfiehlt es sich, den Projekterfolg auch um die Messgrösse ’Kundenmehrwert’ miteinzubeziehen. Oftmals geben abgebrochene Projekte wichtige Hinweise auf den nächsten Schritt einer Lösung. Eine ehrliche Beurteilung der Projekte und wo nötig Anpassungen beim nächsten Implementierungsschritt sind wichtige Voraussetzungen. Hier kann es auch hilfreich sein, über die Innovationsmodelle bei den grossen Technologieanbietern zu lernen. Frühzeitiges Feedback verhindert Fehlentwicklungen: Digitale Lösungen sollte man nicht im Stillen «bis zu Ende» entwickeln, sondern mit Zwischenzielen versehen, die, intern oder öffentlich, vorgestellt und erprobt werden. Am Beginn kann dabei ein «Minimum Viable Product» stehen, das die Minimalanforderungen abdeckt und anhand dessen die Nutzerakzeptanz für kommende Produkte überprüft und wo notwendig angepasst werden kann.
Fazit: Was ist bei der Digitalen Transformation zu beachten
Jede Versicherung hat für sich eine eigene Firmen- und IT-Geschichte und verfolgt mit der Digitalisierung unterschiedliche Ziele. Für eine erfolgreiche Strategie ist es deshalb wichtig, die entstehenden Chancen optimal zu nutzen und gleichzeitig die Risiken zu minimieren.
Einführungsstrategien
Die verfügbaren Technologien treiben heute die Digitalisierung und auch die Kundenerwartungen. Technologie kann aber auch der Treiber für Effizienzgewinne sein. Analogien zu anderen Industrien, Entwicklungen der Technologieunternehmen und Initiativen von Mitbewerbern können helfen, aus dem eigenen gedanklichen Silo herauszutreten und neue Wege zu finden. So werden die bestehenden Annahmen bestätigt oder revidiert und die Grundlage für die Weiterentwicklung gelegt. Dabei soll die Kundensicht im Zentrum stehen und auch die unterschiedlichen digitalen und analogen Touchpoints ermittelt werden. Um ein gemeinsames Verständnis zu schaffen, ist es hilfreich, unterschiedliche Workshops mit verschiedenen Gruppen inklusive dem Führungsteam durchzuführen. So kann ein gemeinsames Zielbild entstehen, welches alle Unternehmensbereiche abdeckt und wo ein Veränderungsprozess stattfinden muss. Dies bedeutet aber auch, dass innerhalb des Unternehmens Veränderungsprozesse angestossen werden müssen, welche durch organisatorisches und kulturelles Change Management begleitet werden sollten.
Roadmap hin zum Zielbild
Die richtige Priorisierung der einzelnen ermittelten Handlungsfelder ist ein wichtiger Bestandteil einer fokussierten Umsetzungsstrategie, welche aber durchaus in Schritte für die nächsten 3 – 5 Jahre unterteilt werden kann. Effizienzgewinne sind dabei nur ein Aspekt und dienen vor allem der Innensicht; genauso wichtig ist es jedoch, die Verbesserungen aus Kundensicht in Angriff zu nehmen. Diese Roadmap wird nun iterativ verfeinert und mit Abhängigkeiten ergänzt. Wichtig ist auch, dass diese Umsetzungsschritte den End-to-EndProzess im Blick behalten und nicht isolierte Massnahmen ergriffen werden, die den Kern der Veränderung aussen vorlassen.
Umsetzung der Roadmap
Die Technologie wird sich auch während der Implementierungsphase laufend verändern. Deshalb ist es wichtig, bei Digitalisierungsthemen das Change Management im Projekt zu verankern und Veränderungen neu zu beurteilen und wo nötig zu berücksichtigen. Agile Methoden bieten sich hier an, um die Projekte Szenariobasiert voranzutreiben und umzusetzen. Es kann durchaus sein, dass sich durch die Veränderungen eine andere Priorisierung von Projekten ergeben oder dass technologische Entwicklungen neu beurteilt werden müssen. Traditionell sind Versicherungen nach Sparten, Vertriebskanälen und/oder Regionen aufgestellt, was ein Silodenken fördert und Synergien brachliegen lässt. Aus diesem Grund ist es sehr wichtig, von Anfang verschiedene Stakeholder in die Workshops einzuladen, um den Wandel für alle greifbar zu machen. Das Adoption und Change Management ist ein Kernelement jeder technischen Veränderung und kann nicht Top-Down verordnet werden.
Agiles Vorgehen
Das mehrfache Abwägen von Pro und Kontra kann Unternehmen zum Teil lähmen. Hier ist es wichtig mit gesundem Augenmass und Mut Entscheidungen zu treffen und mit der Umsetzung der Projekte zu beginnen, auch wenn der Endzustand noch nicht genau definiert ist.
IFZ Versicherungsstudie 2021, Juni 2021
Fakten
- Digitale Transformation betrifft alle Bereiche
- Effizienzüberlegungen als wichtiger Treiber
- Unternehmensstrategie von zentraler Bedeutung
Fachartikel | 01. Jun 2021
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Benno Leuenberger
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